Von Hirschen und Stereotypen
Berücksichtigt man die Herkunft von Michael Growe, mutet die Wahl seines Themas geradezu emblematisch an. Der Maler ist in Warburg geboren und aufgewachsen, einer historischen Stadt in unmittelbarer Nähe des Eggegebirges, dem südlichen Ausläufer des Teutoburger Waldes. Growe ist somit von Geburt an mit dem mythischen Gehalt deutscher Landschaften vertraut. Dichter und Komponisten des 19. Jahrhunderts, deren weit verbreitete Werke viele bis heute vorherrschende Klischees der deutschen Romantik prägten, sahen den mythischen und historischen Wert der deutschen Landschaft in ursprünglichen germanischen Sagen und mittelalterlichen Legenden verankert.
Michael Growe ist sich der deutschen romantischen Tradition und der damit einhergehenden sentimentalen, oft rührseligen Naturverbundenheit bewusst, auf die er durch den Titel seiner Ausstellung im Kunstraum Lu Yu Bezug zu nehmen scheint. „Dear Deer“ scheint dem Tier die Zärtlichkeit des – möglicherweise Briefe schreibenden – Liebenden Ausdruck zu verleihen.
In seiner jüngsten Werkreihe beruft sich Growe also fast selbstironisch auf dieses Repertoire von Stereotypen, in denen Hirsche als klar erkennbare Ikonen eines gesteigerten romantischen Naturempfindens auftreten.
Beliebte Themen wie Jagdszenen und das Motiv des wilden Hirsches erscheinen vermehrt im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts als Sinnbilder einer bürgerlichen Befindlichkeit und einer nostalgischen Hinwendung zu einem „ursprünglichen“ oder „natürlichen“ Seinszustand, der in der Identifikation mit einer authentischen, ungezähmten Natur gesucht wurde. Diese Vorstellung von edler Unverfälschtheit und Reinheit erstreckte sich auch auf die Ebene individueller Wesensart und moralischer Haltung. Als Symbol für die Verbundenheit des Menschen mit der Natur steht der Jäger, der sowohl mit der bedrohten als auch mit der bedrohlichen Natur interagiert. Es oblag dem Jäger die Natur als schätzenswertes Gut zu erhalten und auch dem unermüdlichen menschlichen Gestaltungswillen entziehen, während er zugleich seine Kräfte an ihr messen konnte. In der Romantik galt der Jäger als feingeistiger Einzelgänger, „als eine Art romantischen Dichter mit Gewehr, der natursinnig und von bittersüsser Sehnsucht überfließend durch den Wald streift.“ (Matt Cartmill, Tod im Morgengrauen. Das Verhältnis des Menschen zu Natur und Jagd, 1993, S. 147) Wie der Jäger entstammt auch die Figur des heldenhaften Wanderers, des Poeten der überhöhten Auseinandersetzung mit der Natur. Letzterer suchte die ungebändigte, freie Natur als „locus amoenus“, als erquicklicher Ort geistiger Freude und Inspiration.
In diesem Zusammenhang werden Tiere zu prominenten Protagonisten in Gemälden der Zeit. Besonders der Hirsch als originärer Bewohner dichter Waldgebiete wurde mit heldenhaften, maskulinen Zügen versehen. Die majestätische Gestalt des stolzen Tieres herrschte über den Wald als männliche Domäne. Dieses Bild wurde zum Symbol siegreicher Stärke. In der Folge wurden Hirschgeweihe als Trophäen ausgestellt, mit welchen Kraft und Mut des erfolgreichen Jägers zelebriert wurden.
In der späten Phase der Romantik zwar bis hin zum Kitsch gesteigert, finden sich Bilder von Hirschen jedoch in der gesamten Kulturgeschichte der Menschheit. In der Höhle von Lascaux weisen eine große Zahl von Wandzeichnungen der Hirschjagd auf die innige, überlebensnotwendige Beziehung zur nahrungsspendenden Natur hin. Diese frühen Bilder sind mit symbolischer Bedeutung aufgeladen, da sich die Abhängigkeit von der Natur zugleich als weltanschauliches Bekenntnis manifestiert.
Eine der bekanntesten Erzählungen des Jagdthemas, das von Malern im Laufe der Jahrhunderte vielfach variiert wurde, stammt aus der klassischen Mythologie, aus Ovids Metamorphosen. Die Geschichte von Diana und Actaeon erzählt von Diana, Göttin der Tierwelt und des Waldes, die sich nach einer Jagd ausruht und ein Bad in einem versteckten Weiher nimmt. Der junger Jäger Actaeon streift durch den Wald und wirft versehentlich einen flüchtigen Blick auf die nackten Göttin. Zur Strafe verwandelt Diana ihn in einen Hirsch. Seine eigenen Jagdhunde nehmen seine Witterung auf und zerreißen ihn.
Obwohl Michael Growe ein umfassendes Wissen über klassische Narrative und spezifisch deutsches Kulturgut besitzt, verzichtet er darauf, eine Story oder ein Klischee zu illustrieren. In seinen Gemälden inszeniert Growe keine Erzählung und arrangiert auch keine dramatische Szene. Kein herrlicher Hirsch thront auf einer steilen Klippe, die sich spektakulär aus einem nebligen Himmel erhebt. Vielmehr befreit der Künstler auf einer abstrakten Ebene seine Figuren von der Beschränktheit einer bestimmten Erzählung. Obwohl mehrere Titel seiner Gemälde gezielt auf den Mythos von Diana und Actaeon verweisen, entfalten sich Growes Hirsche und weibliche Silhouetten wie Scherenschnitte in einem kontextfreien, rein malerischen Raum, aus dem alle illusionistischen Effekte verbannt wurden.
Ohne identifizierbare Landschaftselemente oder Attribute, die über die dargestellte Person Auskunft geben, wird die Komposition von flachen Farbfeldern dominiert. Hier wird keine heroische Haltung, keine monumentale Körperlichkeit gezeigt. Stattdessen sind Growes Hirsche frei schwebende Formen in farbenfrohen Variationen. Geweihe treten als vorherrschende Formen auf und werden zunehmend abstrahiert, durch ihre multiplen Verästelungen beginnen sie Farbrinnsälen zu ähneln, die sich ungleichmäßig über die Oberfläche ausbreiten. Sobald die Kurven des weiblichen Körpers und die unregelmäßige Kontur eines Geweihes ineinander übergehen, sind die klassischen kompositorischen Bereiche von Vorder- und Hintergrund aufgehoben. Wo sich die geschmeidigen Formen wie Schablonen durchmischen und durchdringen, werden die einzelne Farbflächen trennenden Umrisslinien in einem Netzwerk von Linien miteinander derart verflochten, dass sich die Figuren in ihrer geschlossenen Form „Hirsch“ oder „Frau“ nahezu auflösen. In dieser Interaktion erscheinen die schematisierten Formen oft körperlos wie Schatten. Kontraste wechseln dynamisch hin und her, wie in einem Bilderrätsel oder einer optischen Täuschung.
Viele Merkmale von Growes Malerei weisen auf Pop Art hin. Seine Ästhetik erinnert oft an Plakatwerbung mit ihren auffälligen Farben, klaren Konturen und eingängigen Botschaften. Einige Bilder zeigen zackige Blitze, die auf die Strahlen von Scheinwerfern oder die Kollision von Geweihen während eines Kampfes denken lassen. Solche Explosionssymbole wirken in ihrer expressiven Ausdruckskraft und stilisierten Form wie Signale in der reduzierten Darstellungsform des Comics. Auf anderen Bildern wird der elegante Tanz aus wirbelnden Geweihen und weiblichen Rundungen in den Grundfarben Blau, Rot und Gelb gehalten. Das Zusammenspiel der Formen wird manchmal durch dunstiges Mondlicht verstärkt, welches ebenfalls als Signal lesbar wird und die Vorstellung einer romantischen Szene weckt.
Trotz der stark oberflächlichen Erscheinung von Growes Gemälden umfasst ihr Produktionsprozess eine ausgefeilte, zeitaufwändige Technik, die der Künstler auch in seinen skulpturalen Arbeiten anwendet, in denen er die Beziehung zwischen Oberfläche und Körper gründlich untersucht. Für den Künstler ist die physische Realität eines Gemäldes von fundamentaler Bedeutung. Ein Sperrholz-Chassis bildet die Basis, auf das Farbmaterial schichtweise aufgetragen wird. Dieses wird immer wieder abgeschliffen, so dass am Ende subtile Spuren früherer Farbschichten sichtbar bleiben.
Growe schafft auf diese Weise eine Oberfläche mit einem verführerischen, glatten Finish, das ein Gefühl von Tiefe jenseits des Illusionismus vermittelt, dafür jedoch auf malerischer und substanzieller Ebene. Er füllt die ebene Bildfläche mit schematisch reduzierten Formen und dynamisch aus den Schichten des Farbauftrags heraus in Beziehung zueinander tretenden Farbfeldern. Tiefe entsteht nicht als fiktive Konstruktion innerhalb einer malerischen Komposition, sondern als das Ergebnis der unmittelbaren Bedingungen, die in der Produktion angelegt sind und der Betrachtung zugrunde liegen. Growe zielt nicht darauf ab, den Beobachter in einen fiktiven Raum zu ziehen, indem er ihn von seiner tatsächlichen Umgebung ablenkt. Die Tiefe wird hier zum einen durch subtile Farbveränderungen hervorgerufen, ist aber darüber hinaus dem Chassis des Bildes als tatsächlicher Körper zueigen. Die Tiefe ist an die materielle Realität gebunden und untrennbar mit ihr verbunden. In diesem Sinne würdigt Growe die materialistische und minimalistische Haltung von Donald Judd, der behauptete, dass „der tatsächliche Raum wirklich aussagestärker und spezifischer ist, als Farbe auf einer flachen Ebene.“ (Donald Judd, Complete Writings, 1959-1975, New York University Press, New York, S. 184)
Growes Werke visualisieren und betonen daher den ikonischen Wert und die kommunikative Macht des Bildes, vor dessen Hintergrund sie stereotype Darstellungen reflektieren, die sowohl in der Romantik als auch in der Pop Art dominieren. Gleichzeitig stellen Growes Gemälde ihre Objekthaftigkeit in den Vordergrund. Mit einem ironischen Unterton könnte man sogar sagen, dass seine Bilder aufgrund ihrer Motive, der Anziehungskraft ihrer Oberfläche und der Realität ihrer physischen Präsenz – die einen praktischen Zweck erfüllen könnte – sowohl symbolhaft auf Trophäen verweisen als auch konkret als Trophäen fungieren.
Bettina Haiss